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Augenoptik: Keine Angst vor (Seh-)Fehlern

Nazia Noori, die im ipcenter das dritte Lehrjahr ihrer überbetrieblichen Ausbildung zur Augenoptikerin absolviert, dreht den Kreuzzylinder, der für Laien wie eine Lupe aussieht, vor dem rechten Auge von Fatima-Zehra Asmaoglu. Die 18-Jährige lässt sich im ipcenter zur Hörgeräteakustikerin ausbilden und ist heute bei ihren Kolleg:innen von der Augenoptik zu Gast. Mit ihrer Untersuchung möchte Nazia herausfinden, ob Fatima-Zehra einen Astigmatismus hat. „Keine Hornhautverkrümmung”, stellt sie fest. Trainer Daniel Kopf ist erstaunt: „Wir haben uns heute das erste Mal mit der trockenen Thematik eines Sehtests beschäftigt und ich hätte nicht gedacht, dass wir noch am selben Tag eine komplette Messung durchführen.” Doch Nazia hat ihr Ziel schon klar vor Augen, wobei sie sogar noch über ihre Lehrabschlussprüfung hinausblickt: „Ich will den Meister machen. Und danach möchte ich auch Trainerin werden.”

Lehrling mit Kreuzzylinder
Nazia Moori mit dem Kreuzzylinder

Bei ihrem Trainer Daniel Kopf und seinen Kolleg:innen hat sie bislang nicht nur gelernt, wie ein Sehtest abläuft, sondern auch, wie eine Brille von den Bügeln über den Mittelteil bis zu den Gläsern angefertigt wird. „Am meisten Spaß hat es mir gemacht, die Anatomie des Auges zu lernen, aber auch das Handwerkliche wie das Löten, Schleifen und Polieren macht Spaß.” Wie sie Brillen verkauft und Kunden berät, hat sie bei einem Praktikum in einem Geschäft in der Millenium City erprobt.

Um die Lehrlinge besser auf diesen Teil des vielfältigen Berufs vorzubereiten, wurde am ipcenter-Standort Breitenfurter Straße vor kurzem ebenfalls ein Verkaufsraum eingerichtet, komplett vom Sehtest bis hin zu den Vitrinen mit Brillengestellen. „Der Verkaufsraum soll klar und rein wirken und ein Flair von medizinischer Beratung haben”, erklärt Daniel Kopf. Schließlich müsse ein:e Optiker:in sehr sorgfältig und sauber arbeiten, damit sein:e Kund:in am Ende so gut wie nur möglich sieht, und diese Attribute soll deshalb auch der Raum ausstrahlen.

Wie viel Arbeit der Weg zur passenden Brille mit sich bringt, ist an diesem Ausbildungstag gut zu sehen. Was im Geschäft zehn Minuten dauert, kann hier, wo die Lehrlinge das erste Mal einen Sehtest machen, eine halbe Stunde Zeit oder länger in Anspruch nehmen. Immer wieder schaut Nazia Noori auf das Flipchart, wo die Lehrlinge genau aufgelistet haben, welche Punkte zu beachten sind, um die richtige Glasstärke zu ermitteln. Bevor überhaupt gemessen wird, muss gesprochen werden, zum Beispiel darüber, ob die Kundin Probleme mit dem Blutdruck oder Blutzucker hat, Medikamente einnimmt, schwanger ist oder stillt. „All das kann sich auf die Sehleistung auswirken”, erklärt der Trainer. Nachdem Fatima-Zehra Amaoglu alle Fragen verneint hat, greift „Optikerin” Nazia Noori zum Pupillometer. Jetzt geht es weiter mit dem Punkt „PD messen”, wobei PD für Pupillendistanz steht. Sie ist wichtig, um die Messbrille richtig einzustellen.

Lehrling bei der PD-Messung
Nazia Moori und Fatima-Zehra Asmaoglu bei der PD-Messung

Was im Geschäft so leicht aussieht, ist nicht so einfach, wenn es zum ersten Mal gemacht wird. Der Pupillometer zum Beispiel muss gleichzeitig gerade gehalten und eingestellt werden. Da ist es gut, wenn „Kundin” Fatima ein wenig mithilft. Trainer Daniel Kopf nimmt sich vor, in den nächsten Tagen mit seinen Lehrlingen zu üben, wie sie es ohne Hilfe schaffen, die PD zu messen, denn die nächste Hürde wartet gleich dahinter: Wie gelingt es, die Bügel der Messbrille über die Ohren zu schieben, wenn diese unter einem Hidschab versteckt sind? Auch hier hat der erfahrene Optiker einen Trick parat: „Am besten die Bügel ganz lang stellen.”

Meimoonah Al-Janabi, wie Nazia Noori im 3. Lehrjahr, fragt ihre „Kundin” Haya Ali einfach, ob die Brille gut auf der Nase sitzt. „Das ist gut”, lobt Daniel Kopf. Auf keinen Fall dürften Optiker:innen ihre Kund:innen in eine unangenehme Situation bringen, haben diese bei der Messung ihrer Sehstärke doch ohnehin oft das Gefühl, den Ansprüchen nicht zu genügen. „Dabei muss sich niemand schämen, schlecht zu sehen”, erklärt der Trainer, der selbst Brillenträger ist. „ Und glücklicherweise ist eine Brille heute keine Prothese mehr, sondern eher ein Accessoire.” Angehende Optiker:innen sollten deshalb nicht nur wissen, wie man die Sehstärke misst, sondern sich auch für Farblehre, Stilfragen und Mode interessieren.

Nicht schön oder gar modisch, aber sehr praktisch ist die Messbrille, in die Gläser in verschiedenen Stärken einfach hineingeschoben werden können, um die optimale Sehhilfe zu ermitteln. Doch einstweilen bleibt sie leer, denn nun – nächster Punkt auf dem Flipchart – soll der BI ermittelt werden. BI? „Binokularer Visus”, weiß Nazia. Auf Deutsch: Wie scharf sieht jemand mit beiden Augen ohne jegliche Sehhilfe? Während Fatima Augen wie ein Adler hat, also weder kurz- noch weitsichtig ist und auch keine Hornhautverkrümmung hat, womit sie als Kundin für eine Brille nicht in Frage kommt, ist bei Haya Ali das Gegenteil der Fall: Sie trägt zwar keine Brille, als sie in den Verkaufsraum kommt, doch wie der Sehtest gleich zeigen wird, benötigt sie unbedingt eine Sehhilfe. Als „Optikerin” Meimoonah sie bittet, Buchstabenreihen vorzulesen, die auf einem Monitor an der Wand zu sehen sind, gerät Haya schnell ins Stocken. „0,4” notiert Meimoonah schließlich für den Visus beider Augen am Flipchart. Das bedeutet, dass die 19-Jährige 40 Prozent Sehvermögen hat.

Lehrling schreibt etwas auf ein Flipchart
Meimoonah Al-Janabi notiert den Visus am Flipchart

Um diesen Wert zu verbessern, deckt Meimoonah zunächst Hayas linkes Auge ab. Welches der unzähligen Gläser in verschiedenen Dioptrien aus dem Kasten soll sie in die rechte Seite Messbrille schieben? Daniel Kopf hilft mit seiner Erfahrung und den richtigen Fragen, die die Lehrlinge ebenfalls auf dem Flipchart notiert haben: Wird ein schwarz gerahmtes Glas, das Weitsichtigkeit korrigiert, in die Messbrille geschoben, fragt Maimoonah „Gleich oder schlechter?” Bei einem rot gerahmten Glas, das Kurzsichtigkeit korrigiert, lautet die Frage dagegen: „Besser oder kleiner/dunkler?”

Haya braucht etliche rote Gläser. Sie ist so stark kurzsichtig, dass die Buchstaben bei ausreichender Korrektur zwar schärfer, aber auch viel kleiner werden. Ihre Brille setze sie immer nach wenigen Minuten wieder ab, weil sie Kopfschmerzen bekomme. Daniel Kopf nickt voller Verständnis: „Du brauchst Kontaktlinsen.” Dieser Wunsch kann ihr in der Lehrwerkstätte im ipcenter zwar nicht erfüllt werden, aber wer eine kaputte Brille hat oder eine Fassung, für die Gläser geschliffen werden sollen, kann die Lehrlinge in der Werkstatt besuchen und um ihre Hilfe bitten.

Lehrling und Trainer bestimmen Sehschärfe
Daniel Kopf und Meimoonah Al-Janabi bestimmen die Sehschärfe von Haya Ali

Dass die Anfertigung nicht so schnell geht wie in einem Geschäft, ist dabei zu berücksichtigen. „Hier dürfen wir Fehler machen, hier sind sie sogar erwünscht”, sagt Daniel Kopf, der die Ausbildungsräume in der Breitenfurter Straße deshalb auch gerne „Räume der Fehler” nennt. Drei Jahre haben die Lehrlinge Zeit zum Lernen: „Wenn sie keine Fehler mehr machen, ist die Ausbildung zu Ende.”

 

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