Bildungsprojekte

Igor auf dem Weg zur Schule

Als Igor Gryshchu im März 2022 nach Wien kam, hat er beinahe bei Null angefangen: „Ich kannte nur die Zahlen eins, zwei, drei – mehr nicht.“ Dass er jetzt auf Deutsch von dieser Anfangszeit erzählen kann, verdankt er vor allem den Sprachkursen, die er seitdem gemacht hat. Derzeit besucht er im ipcenter einen B1-Kurs für Menschen aus der Ukraine, die aus ihrer Heimat Kenntnisse in Pädagogik mitgebracht haben und in Wiener Kindergärten und Schulen arbeiten möchten. Dafür lernen sie nicht nur Deutsch, sondern machen auch Praktika in Kindergärten, weil dort Elementarpädagog:innen dringend gesucht werden.

Deutsch gelernt, Englisch vergessen

„Zuerst war es schwierig für mich, Deutsch zu lernen, dann wurde es leichter. Jetzt ist es gerade wieder ein bisschen schwierig“, sagt Igor Gryshchu. Er hat innerhalb so kurzer Zeit so viel von der für ihn zunächst komplett fremden Sprache gelernt, dass in seinem Kopf kaum noch Platz für etwas anderes ist. Neulich hat ihn jemand an der Station Wien Landstraße auf Englisch etwas gefragt. Und Igor, der an der Universität in Kiew auch ein Jahr lang Russisch und Englisch studiert hat, konnte auf einmal nicht mehr in dieser Sprache antworten: „Ich habe alles vergessen.“

Stattdessen taucht Igor an drei Nachmittagen in der Woche hinein in die Finessen jener Sprache, die allein mit ihren drei verschiedenen Artikeln „der“, „die“ und „das“ so manchen Lernenden zur Verzweiflung treibt. Deutschtrainerin Pia Weninger ebnet den Weg zum korrekten Wortschatz mit spannenden Büchern: „Erst haben wir einen Krimi um den Privatdetektiv Carsten Tsara gelesen, jetzt lesen wir Faust – das Volksbuch in einer Version für das B1-Niveau.“

Pia erklärt Kursteilnehmerin Tetiana etwasMit Tipps und Tricks hilft Deutschtrainerin Pia Weninger (rechts) Kursteilnehmer:innen über jede sprachliche Hürde hinweg.

Zusammen mit Kindern lernen

Nicht nur sprachlich profitieren die Lernenden von dieser Lektüre, auch inhaltlich biete die Geschichte Diskussionsstoff: „Faust wächst ja eigentlich bei seinem Onkel auf, es geht in dem Buch also auch darum, was wichtig ist, wenn man ein Kind großzieht”, erklärt Pia Weninger. Darüber nachzudenken und zu sprechen ist für die Pädagogik-Expert:innen natürlich besonders spannend.

„Kinder lernen nicht aus Büchern, sondern indem sie sprechen”, sagt Iryna Ivanova, die an den Vormittagen ebenso wie alle anderen in diesem Deutschkurs als Assistentin in einem Wiener Kindergarten arbeitet. Dort treffen die Pädagog:innen aus der Ukraine auch viele Kinder, die ebenfalls nicht Deutsch als Muttersprache haben: „Viele Kinder sprechen Türkisch. Wir lernen also zusammen Deutsch”, erzählt Kursteilnehmerin Diana Muravlova.

Was sie bei der Arbeit im Kindergarten aufschnappen, vertiefen sie dreimal wöchentlich nachmittags im Deutschkurs. Dass Igor Gryshchu der einzige Mann in der Runde ist, fällt ihm gar nicht weiter auf. „Ich habe schon mein ganzes Leben mit Frauen gearbeitet, das ist nichts Besonderes für mich, das war schon in meiner Gruppe an der Uni so.“

Fünf Jahre lang hat er in seiner Heimat Pädagogik und Psychologie studiert und anschließend auch in diesem Beruf gearbeitet, unter anderem in Sommercamps. „Doch in der Ukraine konnte ich als Pädagoge nicht genug Geld verdienen. Die umgerechnet 200 Euro reichten gerade einmal für ein Zimmer.“ Also hat der heute 39-Jährige umgesattelt und seinen Lebensunterhalt unter anderem als Content Manager und Fotograf verdient: „Ich habe schon in vielen Berufen gearbeitet.“ Sein Traum blieb es jedoch, mit Kindern zu arbeiten. „Ich wollte sogar einmal einen eigenen Kindergarten eröffnen.“

Diana und Nataliia lesen gemeinsam in ihren Deutsch Lernunterlagen

Interaktiv und gemeinsam: das erleichtert auch Diana Muravlova (links) und Nataliia Goneharuk (rechts) das Lernen einer neuen Sprache.

Ein Programm, viele Möglichkeiten

Wird sich Igor seinen Traum jetzt in Wien erfüllen? „Dieses Programm gibt uns viele Möglichkeiten zu arbeiten, auch wenn wir noch nicht gut Deutsch sprechen.“ Sein Ziel und das seiner Kolleg:innen ist es jedoch zunächst einmal, Deutsch auf dem Niveau C1 zu beherrschen. „Ich möchte mit den anderen Leuten sprechen können. Und ich möchte gern Arbeit finden, am liebsten in einer Schule“, sagt seine Kollegin Yevheniia Popyk. Und auch Igor, der zwei Söhne hat und den älteren jeden Morgen auf dem Schulweg begleitet, sieht in dem Gebäude am Ziel nicht nur eine Lehranstalt für sein Kind, sondern auch eine Institution, die ihm nach der erfolgreich abgelegten Prüfung vielleicht einmal zur beruflichen Heimat werden könnte.

Das Projekt wird finanziert aus Mitteln des AMS und wird umgesetzt in Kooperation mit der Stadt Wien.

 

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