Mit dem Jugendcollege auf Bildungsreise
Tammam Kheder weiß, was er werden will: Zugbegleiter. Der 18-jährige Kurde, der vor zweieinhalb Jahren von Syrien nach Österreich gekommen ist, ist stolzer Besitzer eines Klimatickets und mit der Bahn unterwegs, wann immer er Zeit hat. Mit dem Zug besucht er seinen Onkel und seine Tante in St. Pölten, eine andere Tante in Linz oder seinen Cousin in Salzburg. „Und in Bad Aussee habe ich auch noch Familie!“ Nur zu seinen Eltern ist der Weg zu weit: Sie leben noch in Syrien. Tammam aber möchte hierbleiben und sein liebstes Hobby, das Bahnfahren, zum Beruf machen.
Bis Tamman nicht mehr das Ticket vorzeigt, sondern selbst die Fahrkarten von Bahnreisenden kontrolliert, braucht es noch etwas Zeit. Den ersten Schritt auf seiner Bildungsreise hat der junge Syrer jetzt gemacht: Im September 2024 war er einer der ersten Teilnehmenden des neu eröffneten Jugendcolleges Wien – #basic SÜD in der Erlachgasse. Seitdem lernt er zusammen mit rund einem Dutzend anderer Jugendlicher jeden Tag Deutsch. In wenigen Wochen wird er die A2-Prüfung ablegen, daneben stehen Fächer wie Englisch, Mathe und digitale Grundkompetenzen auf dem Stundenplan. „Wer eine Prüfung nicht besteht, kann das Modul wiederholen“, erläutert Teamleiterin Büsra Yavuz.
Insgesamt erstreckt sich die Basisbildung über ein Jahr. Nach einer zweiwöchigen Onboardingphase, in der die 15- bis 24-Jährigen unter anderem die Umgebung des Kursstandortes entdecken, steht zunächst Deutsch auf dem Programm. Trainerin Nadia Baha versucht, die schwierige Sprache nicht nur mit Büchern, sondern auch mit Material speziell für Jugendliche zu unterrichten: „Wir arbeiten viel mit Songtexten und Musikvideos.“ Jeden Vormittag wird von 8 bis 11.30 Uhr intensiv gelernt, nach der Mittagspause werden die vermittelten Kenntnisse von 12 bis 14 Uhr spielerisch vertieft. Dafür stehen im Büro von Teamleiterin Büsra Yavus Spiele wie Scrabble oder Activity, aber auch Österreich-Puzzles, mit denen die neue Heimat auch ohne Bahnreise entdeckt werden kann.
Aziz Osman, der ebenso wie Bahn-Fan Tammam Kheder 18 Jahre alt ist und aus Syrien kommt, spielt am liebsten Kahoot, ein Online-Quiz, bei dem mit dem eigenen Handy die richtige Antwort ausgewählt werden kann. Während der vormittäglichen Intensivlerneinheiten sieht seine Trainerin Nadia Baha die Smartphones allerdings nicht so gern in den Händen der Jugendlichen: „Manche geben sie sogar am Morgen schon freiwillig bei mir ab, damit sie nicht vom Unterricht abgelenkt werden.“ Nadia genießt ihre Tätigkeit: „Ich bin sehr, sehr froh, dass ich hier bin. Unser Team wird sehr engagiert geleitet, und meine Gruppe ist sehr aufgeweckt, neugierig und lustig, so dass wir viel zusammen lachen.“ Zwischen den Teilnehmenden und der 41-Jährigen ist schnell ein Band entstanden, das während der einjährigen Ausbildungszeit am Jugendcollege vermutlich noch enger werden wird: „Schon in der zweiten Woche haben die Jugendlichen eine Überraschungsparty für mich organisiert, nachdem ich am Tag zuvor nebenbei erwähnt hatte, dass ich Geburtstag habe.“
Zu den willkommenen Abwechslungen gehören auch die Exkursionen, die das AMS als Teil des Unterrichts ermöglicht. Dabei lernen die Jugendlichen Sehenswürdigkeiten wie Schönbrunn oder den Prater kennen, besuchen im Sinne der Demokratieförderung das Parlament, erweitern ihren Horizont im Technischen Museum oder im Wien Museum und erfahren, wie sie die Büchereien der Stadt Wien zum eigenständigen Lesen und Lernen nutzen können.
Unangefochten auf Platz eins der Freizeitaktivitäten steht bei den überwiegend männlichen Teilnehmenden aber ganz klar Fußball. Wenn das Wetter mitspielt, gehen die Gruppen nach der Mittagspause gern zum Kicken in den Park, und nicht nur bei Schlechtwetter ist der Fußballtisch in einem der Pausenräume umlagert. „Gerade überlegen wir, ob wir ein Fußballturnier organisieren“, erzählt Büsra Yavuz. Aber auch an die jungen Frauen, die rund 17 Prozent der Teilnehmenden ausmachen würden, wurde gedacht: Im Mädchenraum, der nur mit Hilfe eines Codes zugänglich und mit Sofa, Couchtisch, Regal und Grünpflanze wohnlich ausgestattet ist, sind sie zu selbst bestimmten Zeiten unter sich.
Gemischt ist dagegen das Angebot in der Genusswerkstatt, das auch von Teilnehmenden der Projektpartner bit Schulungscenter und dieBerater in Anspruch genommen wird. In 15-köpfigen Gruppen lernen sie in der chromblitzenden Küche mit dem einladenden Ess- und Lernbereich innerhalb einer Woche, wie sie ein Menü selbst zubereiten können. Am Montag steht zunächst Theorie auf dem Speiseplan. Dafür hat Trainerin Anita Stradner eine mehrseitige Lernunterlage zusammengestellt, in der die Bezeichnungen für Lebensmittel dank Bildern auch für Teilnehmende aus Alphabetisierungsmodulen verständlich werden. Auf dem Flipchart steht, was diese Woche gekocht werden soll: Nach der Vorspeise am Dienstag – einer Kürbis-Linsen-Suppe – wird es am Mittwoch Kabseh mit Salat geben. „Das ist ein Reisgericht mit Huhn“, erklärt die Trainerin, die gern die kulinarische Vielfalt ihrer Gruppen aufgreift. Die Nachspeise, die am Donnerstag gebacken wird, ist dann wieder typisch für Mitteleuropa: Apfelkuchen mit Schlagobers.
Damit das Lernen bei allem Genuss nicht zu kurz kommt, wird zum Wochenabschluss am Freitag ein Test serviert, in dem Lebensmittel benannt und zugeordnet werden sollen. „Weil ich jede Woche eine neue Gruppe hier habe, muss ich sehr flexibel reagieren“, erzählt Anita Stradner, die als studierte Ernährungswissenschaftlerin, ausgebildete Köchin und Trainerin vielfältige Zutaten in ihre Arbeit einfließen lässt. „Neu für mich sind Jugendliche als Zielgruppe, da lerne ich selbst gerade sehr viel.“
Während Anita Stradner ihre Gruppen nach einer Woche wieder entlässt, werden die anderen 31 Kursräume im Jugendcollege zu einer zweiten Heimat für die Jugendlichen: An den Wänden hängen neben einer Österreich-Fahne selbst gemalte Flaggen aus den jeweiligen Heimatländern, aber auch Deklinationstabellen für den bestimmten Artikel, das kleine 1 x 1 und Kursregeln. Auf einem anderen Plakat in Nadia Bahas Raum stehen Wünsche der Gruppe. „Wir möchten in Ruhe lernen und die Prüfung schaffen“, heißt es dort zum Beispiel. Für Aziz Oman ist der erfolgreiche Abschluss des Jugendcolleges gleichbedeutend mit dem Start in die Berufswelt, denn der 18-Jährige hat bereits eine Ausbildung zum Friseur absolviert. Nun fehlen ihm nur noch die nötigen Deutschkenntnisse. Motivation finde er in der Erlachgasse genug: „Mir gefällt alles hier!“
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